Was können Führungskräfte tun, um Mitarbeiter zu Hochleistungsteams zu formen? Sie setzen auf die systematische Förderung und Stärkung der Selbstorganisation. Executive Coach Reinhard F. Leiter erläutert die Details.
Systeme sind komplex und dynamisch. Deshalb sollten Führungskräfte darin geübt sein, ganzheitlich zu denken und die Verflechtungen ihrer Organisation im Blick zu haben. Das setzt einen systemischen Ansatz voraus, der drei wesentliche Vorteile vereint: die wertschätzende Betrachtung des Mitarbeiters als Experten für sich und seine Probleme, eine lösungs- und ressourcenorientierte Vorgehensweise sowie die produktive Rollenaufteilung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. Dabei ist der Blick auf alle Menschen gerichtet, die sich in dem System bewegen.
Hierarchien in der Berufswelt.
Ein lebendes System ist eine Gruppe von Menschen, die in einem Muster von Beziehungen zueinander stehen, das von Ordnungsregeln geprägt ist. Diese bestimmen die Beziehungsmuster unabhängig vom Wollen des Individuums. „Lebende Systeme funktionieren nicht, wie wir wollen, sondern wir funktionieren, wie sie wollen“, sagt Reinhard F. Leiter, Executive Coach aus München.
In diesem Zusammenhang gibt es drei Kernthemen, die zu beachten sind:
- die Rangordnung der Gruppenmitglieder untereinander, die sich in den hierarchischen Führungsebenen sowie in den Beziehungen von Gleichgestellten widerspiegelt.
- die Regeln, die bestimmen, ob eine Person zu einem System gehört oder nicht.
- der Ausgleich des Gebens und Nehmens.
Systeme haben ein immanentes Bedürfnis nach Führung. In einer Familie übernehmen die Eltern mit der Geburt ihres ersten Kindes die Führung. Mit zunehmender Selbstständigkeit der Kinder schwindet diese Führungsrolle. Was bleibt, sind Respekt und Dankbarkeit. In Wirtschaftsbetrieben bestimmen die Eigentümer oder die von ihnen eingesetzten Stellvertreter darüber, wer führt. Alle existierenden Systeme in der Berufswelt sind durch Hierarchien gekennzeichnet. Diese legen fest, wer führt und wer geführt wird. Wie Eltern in der Familie tragen Führungskräfte die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Systems und haben eine Fürsorgepflicht ihren Mitarbeitern gegenüber. Und so, wie es gute und schlechte Eltern gibt, gibt es auch gute und schlechte Vorgesetzte.
Führung verpflichtet.
Führung ist nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Verpflichtung. Nach Einschätzung des Führungskräftetrainers erleben wir heute aus Angst vor autoritärer Führung vielfach eine Verweigerung von Führung. Dieses Verhalten führe dazu, dass die Führungsfunktion von informellen Führern übernommen werde, die damit meist überfordert seien. Eine Abteilung könne ihre Leistungsfähigkeit nicht entfalten, weil Mitarbeiter sowohl mit ihren originären Aufgaben beschäftigt seien als auch mit dem Füllen des Führungsvakuums. Die scheinbare Freiheit, die eine Abwesenheit von Führung vorgaukelt, sorge nicht etwa für mehr Motivation und Eigenverantwortung, sondern sie demotiviere und überfordere die Mitarbeiter.
Rangordnung unter Gleichgestellten.
Übernimmt ein Gleichgestellter die Führungsaufgaben in Ermangelung einer formellen Führungskraft, werde das oft als Anmaßung empfunden. Es löse oft offen ausgetragene Konflikte unter den Gleichgestellten aus, die passiven Wider stand oder Boykott nach sich ziehen. Bei einer Fusion z.B. seien nicht alle Partner gleich. „Die Morgengabe, die sie in eine neue Gesellschaft oder ein Unternehmen einbringen, sei es Kapital oder Kunden Know-how, verleiht ihnen Stärke, aus der sie ihren Führungsanspruch ableiten“, betont Leiter. Zu schnell werde dabei vergessen, dass der größere Partner eine Fürsorgepflicht für den kleineren Partner bzw. dessen Mitarbeiter und Kunden hat. In jeder Abteilung herrscht eine Rangordnung unter den Mitarbeitern, die sich allerdings nicht wie bei Geschwistern am Lebensalter, sondern am Dienstalter orientiert. Wird bei der Ernennung eines Nachfolgers der Stellvertreter oder der Dienstälteste übergangen, empfinden die Kollegen das als ungerecht.
Wertschätzung zeigen.
Nicht umsonst sind Jubiläumsfeiern, wertvolle Geschenke und Sonderzahlungen sichtbare Zeichen der Wertschätzung langjähriger Mitarbeiter und dokumentieren die Bedeutung von Rangordnungen. Der neue Nachfolger hat sofort ein Akzeptanzproblem. „Anerkennung kann man sich zwar bis zu einem gewissen Grad erarbeiten, aber in erster Linie muss man da hineinwachsen“, ergänzt Leiter. Rangordnungen seien aber nicht nur auf Mitarbeiter beschränkt. Auch unter den Ressorts gebe es eine Rangordnung, die je nach Unternehmenssituation wechselt. Bei knapper Liquidität sei das Finanz-/ Controlling-Ressort ganz oben. In Zeiten knapper Arbeitskräfte sei es die HR-Abteilung und in Zeiten hart umkämpfter Märkte der Vertrieb.
Wenn ein neuer Chef kommt.
Darüber hinaus gibt es ein drittes Kriterium: die Kompetenzordnung. An der Spitze der Rangordnung steht derjenige, der die Kompetenz hat. In diesem Fall arbeitet auch ein Vorgesetzter seinem Mitarbeiter zu, wenn dieser unbestritten die notwendige Kompetenz hat. Ohne dieses Ordnungskriterium können wirtschaftliche Organisationen nicht überleben. Als besonders konfliktträchtig gelten Situationen, in denen ein neuer Chef von außen kommt, der gemessen an seiner hierarchischen Stellung an erster Stelle der Rangordnung, gemessen an der Ursprungsordnung aber am Ende der Rangordnung steht.
Zu viel Eigensinn, um sich und anderen zu beweisen, dass er diese Position zu Recht einnimmt, führt bei vielen Mitarbeitern zur äußeren oder inneren Kündigung. Zu sehr schmerzt die Verletzung der Rangordnung. Nur die Übernahme von Verantwortung, die Würdigung der Erfahrung und des Fachwissens der Mitarbeiter durch Wort und Tat und die Einbeziehung der Mitarbeiter in seine Entscheidungen können diesen Konflikt lösen.
Nachlassende Motivation bei Kündigungswellen.
Kündigungswellen sind nicht nur für die Betroffenen ein harter Schlag, sondern wirken sich nachteilig auf die Motivation, die Arbeitsfähigkeit und das Zugehörigkeitsgefühl der Verbliebenen aus. Dabei macht der Ton bzw. der Stil die Musik. Werden Kündigungen als ungerecht empfunden, weil sie ohne Würdigung der Ausscheidenden ausgesprochen werden, wirken die Verbliebenen häufig wie betäubt. Sind Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen unvermeidlich, dann müssen solche Prozesse besonders feinfühlig angegangen werden.
Auch bei Mergers und Acquisitions spielt die Zugehörigkeit eine große Rolle. Bei der Übernahme eines Unternehmens wird dessen Identität oftmals ausgelöscht. Für die Mitarbeiter ist das vielfach mit dem Verlust der Heimat gleichzusetzen – selbst, wenn sie alternativlos war. In der neuen Firma müssen sie sich wieder hinten anstellen, Führungskräfte werden in der Position oft zurückgestuft und Mitarbeiter müssen untergebracht werden. Ihre Leistungen für ihr früheres Unternehmen gehen unter.
Das Outsourcen bedeutet ebenfalls den Verlust der Zugehörigkeit zum Herkunftssystem, so dass die Bindung zum Ursprungssystem verlorengeht. Nicht selten funktioniert die Zusammenarbeit der ausgegliederten Kernbereiche, z.B. IT oder Einkauf, mit dem Unternehmen nach der Ausgliederung nicht mehr. Denn entweder wird die Trennung wirklich vollzogen, dann ist das Herkunftssystem ein Kunde unter vielen, oder aber die Trennung wird nicht wirklich vollzogen, dann lässt die Leistung des ausgegliederten Systems rapide nach, da die Mitarbeiter die Kröte schlucken müssen: Verhalte dich wie ein selbstständiges Unternehmen, aber mach, was wir dir – in unserem, nicht in deinem Interesse – sagen. Das Outsourcen von Kernbereichen erweist sich häufig als Fehlschlag.
Ausgleich von Geben und Nehmen.
In der Berufswelt ist der Ausgleich von Geben und Nehmen klar: Der Arbeitnehmer gibt seine Arbeitskraft und erhält dafür den Lohn. Für die Angemessenheit des Lohns gibt es zwei Bezugssysteme: die Kollegen und den Arbeitsmarkt. Wer sich dauerhaft ungerecht entlohnt fühlt. muss sich einen neuen Job suchen. Sein Blick führt aus dem Unternehmen heraus; er wird es früher oder später verlassen.
Andauerndes Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen führt zur Destruktion innerhalb der Kollegen, da es als ein Verstoß gegen die Regeln der Ursprungsordnung empfunden wird. Werden diese Regeln verletzt, kann es passieren, dass sich die Mitarbeiter selbst nehmen, was ihnen vermeintlich zusteht, z.B. durch Diebstahl von Büromaterial oder Werkzeugen oder durch Betrug.
Beachtung als Grundbedürfnis.
Die Anerkennung von Leistung durch Würdigung als ein immaterieller Faktor im Ausgleich von Geben und Nehmen hat nichts mit dem in Führungsseminaren antrainierten Lob im Mitarbeitergespräch zu tun. Es geht darum, gesehen und beachtet zu werden. Titel und Rangstufen sind wichtiger als Gehaltserhöhungen. Sie werden als persönliche Würdigung, sei es der Leistung oder der Zugehörigkeit verstanden. Beachtung ist laut dem Psychologen Abraham Maslow ein menschliches Grundbedürfnis. Aber: Das am meisten vernachlässigte Bedürfnis ist die Beachtung anderer.
„Mit Kollegen habe ich vor einiger Zeit einen Open Space unter dem Titel All You Need ls Love durchgeführt“, beschreibt der Coach. „Viele der Teilnehmer fühlten sich besonders dadurch angesprochen, dass das Wort Liebe im Zusammenhang mit Organisationen gestellt wurde.“ Wenn der Psychoanalytiker Bert Hellinger von Ordnungen der Liebe spreche, dann gelte das für Organisationen ebenso wie für Familien. Der Reichtum des Lebens könne sich nur entfalten, wenn unsere Lebenssysteme in Ordnung sind.